Das Kirchenbuch Labes
Das Kirchenbuch Labes

Die sagenhafte Heimreise des griechischen Helden Odysseus von seinem Sieg in Troja ins heimatliche Ithaka dauerte nach der Überlieferung zehn Jahre. Danach wurde der Begriff der Odyssee zum Synonym einer langen Irrfahrt.

Ein ähnliches, jedoch von März 1945 bis Weihnachten 2013, also mehr als 68 Jahre andauerndes Schicksal erlebte das erste evangelische Kirchenbuch der pommerschen Stadt Labes. Darüber soll hier berichtet werden.

Kirchenbücher sind das zu Papier gebrachte Gedächtnis von Kirchengemeinden. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg dokumentieren sie den Kreislauf des Lebens von Geburt bis Tod ihrer Gemeindemitglieder und sind nach evangelischem Rechtsverständnis auch deren immerwährendes Eigentum.

 Das erste evangelische Labeser Kirchenbuch

Die Stadt Labes ist bereits früh nach der 1534 in Pommern eingeführten Reformation zum Protestantismus übergetreten, ihre Patrone von Borck erst mit zeitlicher Verzögerung. Von dem 1580 gestorbenen Joachim Borck aus Labes wird berichtet, dass er „einer der ersten Bekenner der göttlichen Wahrheit“ war.

Der Kirche gehörten seit alter Zeit die Filialdörfer Bonin und Unheim an, eingepfarrt waren das Dorf Piepenhagen, das Gut Negrepp und der damalige Holzwärterkaten Dieckborn.

Von einem evangelischen Pastor wird erstmalig 1588 berichtet. Einer seiner Nachfolger wurde 1643 Samuel Buthenius. Er war seit 1638 Hauslehrer bei Matz von Borck gewesen. In seiner Amtszeit begann 1647 die Labeser Kirchenbuchführung. In einem Bericht über die Kirchenvisitation 1598 gibt es keine Hinweise auf eine Kirchenbuchführung, allerdings auch nicht in dem Visitationsbericht von 1659. Dort heißt es, dass die Kirche, das Pfarrhaus und die Schule 1637 vollständig niedergebrannt und noch nicht wieder aufgebaut seien. Alle Aufzeichnungen und Dokumente waren ein Opfer der Flammen geworden. Die Anlegung von evangelischen Kirchenbüchern war mit Edikt des Herzogs zu Stettin, Pommern, Philipp II. am 15.12.1617 angeordnet worden. Von den Kirchengemeinden wurde die Anweisung eher zögerlich beachtet. Ursache dafür war, dass in den Kriegsjahren in vielen Parochien Geistliche nicht vorhanden waren und dass in anderen an eine geordnete Führung der Register nicht zu denken war. Im Vergleich mit anderen pommerschen Gemeinden begann die Kirchenbuchführung in Labes aufgrund der herzoglichen Anordnung nach 30 Jahren verhältnismäßig früh.

Ob und welche Aufzeichnungen es vor 1647 gegeben hat, ist – abgesehen von der Zerstörung durch den Brand im Jahre 1637 – nicht überliefert. Dr. Wehrmann schreibt dazu: „Daß es vor den jetzt erhaltenen Büchern auch schon Register gegeben hat, ist für viele Gemeinden wahrscheinlich. Gerade in den Städten ist zum Teil nicht ohne Schuld der Geistlichen häufig auf das Schrecklichste mit den Kirchenbüchern verfahren worden. Nachlässigkeit und Unverstand haben oft gerade die wertvollen Bände untergehen und verkommen lassen.“

Das Kirchenbuch aus dem Jahre 1647 beginnt mit Eintragungen von Buthenius in sauberer, noch heute deutlich lesbarer Handschrift. Taufen fanden in der Kirche statt, nur ausnahmsweise im Hause. Anfänglich gab es 4 bis 6 Taufpaten, im 18. Jahrhundert regelmäßig nur noch 3. Bei den sogenannten besseren Familien war eine größere Anzahl von Paten üblich.

Auch die Trauungen wurden grundsätzlich in der Kirche durchgeführt. Von einer Ausnahme wird 1663 berichtet, indem es im Kirchenbucheintrag heißt: „Diese beiden (Brautleute) seyn im Gerichte vertraut, weil sie ihre Freye zu zeitig angefangen hatten.“

Bei der Bestattung wurden zwei Formen unterschieden, die in den Kirchenbüchern auch dokumentiert wurden. So heißt es bei einfachen Begräbnissen: „Begraben, zur Erde bestattet, in der Stille oder ohne Sang und Klang weggesetzt.“ Bei einer feierlichen Beerdigung hieß es: „Dreimal geläutet, mit Stand- und Leichenpredigt oder mit einer Standrede begraben.“

Pastor Buthenius ist 1670 verstorben. Sein Nachfolger wurde Johann Christoph Eilert, dem 1696 Johann Thym folgte. Der nächste Amtsinhaber war von 1708 bis 1721 Matthäus Zander, anschließend Johann Samuel Willich bis 1733. Nach 4jähriger Vakanz wurde Johann Benjamin Olischer nach Labes versetzt. Er verstarb 1744. Der nächste Pastor Martin Sturm ist 1762 verstorben. Nach seinem Tod endet das erste Kirchenbuch im Jahre 1764. In diesem Buch finden sich Eintragungen von mindestens 7 Pastoren. Es dauerte dann zwei Jahre, bis ein Nachfolger des Pastors Sturm gefunden war. In seiner Amtszeit wird ein neues Kirchenbuch angelegt worden sein. Über dessen Existenz und Verbleib ist allerdings nichts bekannt.

Das allgemeine preußische Landrecht von 1794 verpflichtete die Geistlichen, Kirchenbuch-Duplikate anzufertigen und sie zum Ende eines Jahres bei den Gerichten abzuliefern. Seit wann diese Anordnung in Labes beachtet wurde, ist unklar. Auf jeden Fall verdanken wir dieser Vorschrift, dass für die Jahrgänge 1824 – 1862 Zweitschriften erhalten geblieben sind, sie befinden sich jetzt im Landesarchiv Greifswald.

Die Verpflichtung zur Abgabe von Zweitschriften an die Amtsgerichte endete mit der Einführung der Standesämter im Jahre 1874. Wo sich die Duplikate für die Zeit zwischen 1862 und 1874 befinden, ist nicht festzustellen. Es bleibt festzuhalten, dass die Originale der Kirchenbücher 1765 – 1823, 1824 – 1862 und 1863 – 1945 seit 1945 verschollen sind.

Die Beurkundungen sind im Allgemeinen von lakonischer Kürze, so z.B. unter Vertrauungen 1651: „Daniel Schulze und Maria Rauschen, Jochim Rauschen Tochter“, oder unter Bestattungen: „Anno 1661 die alte Utecht’sche am 15. Dezember“, „Jürgen Kriesen, der Jüngere, am 27. Mai 1664“, „31. Dezember 1713 die Vogler’sche begraben.

Selten finden sich längere Vermerke, die aber umso auffallender und bezeichnender sind: „Matthias Krüger, ein Reuter und ehrliebender frommer Soldat, so erschossen worden 1. Mai 1668.“ „30. Mai 1746 des Abends ist der recht gottlose Sp. von einer gottlosen Schar attaqiert und totgeschlagen worden. So gelebt, so gestorben, so zur Hölle gefahren.“

Von der einstigen Seelenzahl mag folgende Übersicht einen Einblick vermitteln: Getauft 1647 = 8 Kinder, 1764 = 61. Getraut 1650 = 2 Paare, 1764 = 23. Beerdigt 1658 = 13 Personen, 1764 = 23.

Im Jahre 1709 wurde ein Verzeichnis des „heiligen Gerätes“ angelegt und im Kirchenbuch dokumentiert. Im Einzelnen werden genannt: „Ein Meßgewand von rotem Sammet, ein Meßgewand von Atlas, ein weißes Hemd für den Pastor, 4 weiße Knabenhemden“. Meßgewänder wurden von den katholischen Priestern bei den Messen getragen. Da sie 1709 noch erwähnt werden, kann man annehmen, daß sie noch von dem Prediger genutzt wurden, vielleicht beim Abendmahl.

Monatsblätter
In den Monatsblättern 1922 erschien der Artikel: “Die Familiennamen der Stadt Labes…”

Für Amtsgerichtsrat Zernickow aus Labes war das Kirchenbuch 1647 – 1764 Grundlage für die Erforschung der darin vorkommenden Namen. Insgesamt sind 443 Familien vertreten. Zernickow schreibt 1922, daß sie zum allergrößten Teil noch in Labes vorkommen. Die eigenartige Schreibweise einer ganzen Anzahl von ihnen läßt auf hohes Alter der betreffenden Familie schließen. Die Arbeit konnte nicht ganz erschöpfend sein, weil die Eintragungen stellenweise unleserlich sind.

Der Beginn der Odyssee

Am 3. März 1945 marschierte die Sowjetarmee in Labes ein. Wie in fast allen hinterpommerschen Orten hatte die Zivilbevölkerung die Stadt in letzter Minute verlassen und nur die wichtigsten, das Überleben garantierenden Habseligkeiten mitnehmen können. Wer konnte in diesem Augenblick an die Mitnahme eines dicken und zudem unhandlichen Kirchenbuches denken. Möglicherweise wurde es an einer unzugänglichen Stelle in der Kirche oder im Pfarrhaus versteckt. Vielleicht hat es auch ein zurückgebliebenes Gemeindemitglied solange versteckt, bis es auf heute unbekannte Weise in die Hände der neuen Einwohner fiel. Eigentlich war es für sie wertlos, da sie den katholischen Glauben nach Pommern zurück gebracht hatten und der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Doch beindruckte den Finder wohl die akkurate Schrift in dem dicken Buch und anhand der deutlich hervorgehobenen Jahreszahlen konnte er erkennen, dass die ersten Eintragungen schon vor 300 Jahren erfolgt sein mussten.

Historische Bilder der Marienkirche in Labes, weitere siehe auch bei der Bibliothek in Labes

Für die geflüchteten und vertriebenen Deutschen war das Kirchenbuch verloren, denn es gab keinerlei Nachrichten über dessen Verbleib. Da jedoch die Hoffnung zuletzt stirbt, wurde es in offiziellen Quellen als verschollen bezeichnet.

Die Lebensverhältnisse im kommunistischen Polen verschlechterten sich zu Beginn der 1970er Jahre dramatisch. Auf vielfältige Weise versuchten die Bürger ihren persönlichen Wohlstand zu verbessern. Dazu bot die Nachbarschaft zu den übrigen Ostseeanrainerstaaten gute Möglichkeiten und es entwickelte sich ein reger Handel über die Grenzen hinweg. Auch Kulturgüter, wie Gemälde und andere Antiquitäten wechselten dabei ihre Besitzer. Ein vielgenutzter Weg waren die Fährverbindungen zwischen Polen und den skandinavischen Ländern. So kam es dazu, dass im Jahre 1972 ein polnischer Seemann einem dänischen Hafenangestellten in Kopenhagen das erste Labeser Kirchenbuch zum Tausch anbot. Als Äquivalent wurde ein fast schrottreifer PKW der sowjetischen Marke Lada ausgehandelt, der bei der nächsten Reise des Polen zur Verladung auf ein Schiff bereitstand.

So landete das Kirchenbuch vor nunmehr 40 Jahren bei Ole Jørss in Kopenhagen und schmückte über lange Zeit sein Bücherregal. Je länger es dort stand, umso mehr Gedanken machte sich sein Besitzer über die Zukunft des Kirchenbuchs. Er ließ den Wert durch einen Antiquar schätzen und 2010 machten ihn Bekannte darauf aufmerksam, dass die im amerikanischen Salt Lake City beheimatete Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die zur Konfessionsgemeinschaft der Mormonen gezählt wird, aus religiösen Gründen umfangreiche Familienforschung betreibt und bereits viele Kirchenbücher für Forschungszwecke im Internet verfügbar gemacht hat. Diese Idee faszinierte Ole Jørss, er nahm zu den Mormonen Kontakt auf und stellte das Kirchenbuch leihweise zur Verfügung, damit es verfilmt werden konnte. Die technischen Voraussetzungen dafür waren jedoch in Dänemark nicht vorhanden, so dass das Kirchenbuch eine mehrmonatige Reise nach Amsterdam antrat.

Bis zur Veröffentlichung im Internet vergingen noch fast drei Jahre, denn erst am 16. September 2013 wurden die 639 Seiten der Verfilmung unter dem Link https://familysearch.org/search/collection/2064113 im Internet veröffentlicht. Der Besitzer hatte verfügt, dass bei Abruf jeder einzelnen Seite sein Name und seine Anschrift eingeblendet werden.

 Heimkehr und Ende der Odyssee

Durch aufmerksame Mitglieder des „Pommerschen Greif“ wurde das Auftauchen sofort auf der vereinseigenen Homepage kommuniziert. Gleichzeitig wurde mit dem Besitzer Kontakt aufgenommen, um die Herkunft des Kirchenbuches zu ermitteln. Dabei kam unserem Verein zugute, dass eines unserer rund 500 Mitglieder, Inger Buchard, in Dänemark zu Hause ist. In einem ersten Telefongespräch mit Ole Jørss erfuhr Inger Einzelheiten über den Weg des Kirchenbuchs. Nach einer Beratung unter den Vorstandsmitgliedern wurde der Beschluss gefasst, ein Angebot für den Erwerb des Kirchenbuchs zu unterbreiten. Es zeigte sich jedoch, dass wir nicht die einzigen Interessenten waren und private Sammler bereit waren, weit höhere Preise zu zahlen.

Inzwischen war auch die Verbindung zur Kirchenbuchstelle des Evangelischen Zentralarchivs hergestellt worden. Das Evangelische Zentralarchiv in Berlin verwahrt die Unterlagen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Union Evangelischer Kirchen sowie ihrer Rechts- und Funktionsvorgänger. Dort lagern ca. 6.000 Kirchenbücher aus evangelischen Kirchengemeinden, die in den ehemaligen Ostprovinzen der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union lagen. Diese Gebiete gehören heute zu Polen, Russland und Litauen, deutsche evangelische Gemeinden gibt es dort nicht mehr. Der Leiter der Kirchenbuchstelle Dr. Henning Pahl war zwar an dem Kirchenbuch interessiert, machte aber deutlich, dass das Archiv aus rechtlichen Gründen nicht ihr eigenes Eigentum käuflich erwerben, sondern lediglich bei der Rückführung entstehende Unkosten übernehmen könne. Schnell zeigte sich, dass unsere Absicht, das Kirchenbuch an den rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben das entscheidende Argument für einen Verkauf an den „Pommerschen Greif“ war.

Am 25. November fuhr Inger Buchard mit der Bahn von ihrer Heimatstadt Varde nach Kopenhagen 300 km quer durch Dänemark und holte das Kirchenbuch ab. In einem netten Gespräch bei Kaffee und Kuchen mit dem Ehepaar Jørss wurde deutlich, dass das Ehepaar sehr gute Angebote erhalten hatte, auch in den letzten Tagen, aber sich entschied, dass das Kirchenbuch dorthin zurückkehren soll, wo es hingehört. Ole Jørss möchte am Ende der Odyssee einen Bericht über den Verbleib des Kirchenbuchs erhalten und seine Frau bemerkte: „Es ist eine große Lücke entstanden, und ich möchte schon gerne wissen, was aus dem ‘Kind’ geworden ist, das 40 Jahre lang bei uns im Regal stand“.

Am 5. Dezember 2013 kam Inger Buchard zusammen mit ihrem Mann und dem Labeser Kirchenbuch im Gepäck zu einem mehrtägigen Besuch nach Berlin. Im Nicolaiviertel, unweit des Platzes an dem vor kurzem mit dem Wiederaufbau des Stadtschlosses begonnen wurde, der ehemaligen königlichen preußischen Residenz,  trafen wir uns und die Odyssee des Kirchenbuchs fand ein versöhnliches Ende. Es war ein wahrhaft erhebender Augenblick, dass äußerst gut erhaltene Zeugnis pommerscher Geschichte aufzuschlagen und darin blättern zu können.

Taufen 1651
Taufen 1651

Wenn es auch nicht an seinen angestammten heimatlichen Platz in Pommern zurückkehren konnte, so wird das Labeser Kirchenbuch am 20. Dezember 2013 der Kirchenbuchstelle des EZA übergeben und befindet sich damit in den Händen seines rechtmäßigen Besitzers. Dort kann es von jedem Interessierten eingesehen und für Forschungszwecke genutzt werden.

von Siegfried Hannemann, Inger Buchard und Dieter Wallschläger

 

 

Quellenangaben:
–     Landbuch des Herzogthums Pommern von Dr. Heinrich Berghaus, II. Theil Band VII von 1874 Seiten 916 ff.
–          Die Kirchenbücher in Pommern von Dr. M. Wehrmann, Baltische Studien Bd. 42/1892 Seiten 201 ff.
–          Die Evangelischen Geistlichen Pommerns von Hans Moderow, Stettin 1903 Seiten 284 ff.
–          Geschichte der Stadt Labes in Pommern von Ernst Zernickow, Labes 1922 Seiten 56 ff.
–          Die Familiennamen der Stadt Labes von 1647 – 1764 von Amtsgerichtsrat Zernickow, Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde, Nr. 1/1922 Seite 1.