Ein Gastbeitrag von Peter Gerbrecht

 

Die heutige Aleja Powstańców Wielkopolskich in Stettin ‒ wörtlich „Allee der Auf­ständischen Großpolens“ ‒ trug bis 1945 den beschaulichen Namen „Apfel-Allee“ und kann auf eine rund 200 Jahre lange und bewegte Geschichte zurückblicken. Die Straße lag (und liegt noch heute) im Süden der Stadt und erstreckt sich in nordsüdlicher Richtung zum nächst­gelegenen Vorort bzw. Stadtteil Pommerensdorf (polnisch Pomorzany). Nach allem, was bekannt ist, dürfte sie auch für die Ansiedlung der aus Altdamm stammenden Familie Gerbrecht in der Ostsee-Metropole Stettin gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle gespielt haben.

Im Jahre 1822 gründete die Stadt Stettin am Landweg zwischen der alten Festung und dem südlich gelegenen Pommerensdorf auf über 200 Hektar erstrittenen Landes eine Kolonie und markierte damit den Beginn der so genannten „Pommerensdorfer Anlagen“. Das neue Areal, das vorwiegend aus Obstgärten, Feldern und einigen Wirtschaftsgebäuden bestand, erfuhr bald eine allmähliche Randbebauung und hatte 1857 genau 43 Hausnummern. Am 4. September 1864 wurde es mit seinen mittlerweile 1.610 Bewohnern von Amts wegen zu Stettiner Stadtgebiet erklärt und bildete so dessen Südgrenze. Die Straße ins Stadtzentrum bekam zudem einen neuen Namen und ihre Anwohner wurden im Straßenverzeichnis der Adressbücher von 1866 bis 1880 unter der Überschrift „An der Apfel-Allee (Pommerensdorfer Anlage)“ aufgeführt. Im Zuge dieser ersten großen Urbanisierungsphase und als Folge neu hinzukommender Wohnhäuser, aber auch kleiner Fabriken, Gewerbebetriebe usw., erhielt die Apfel-Allee eine überarbeitete Hausnummerierung; so waren 1866 erst 13 Adres­sen vergeben (1 bis 13), 1876 hingegen schon 28, nämlich die Nummern 1, 1a bis 1i, 2 bis 4, 4a bis 4d und 5 bis 15.

Spätestens im Alter von neun Jahren muss unser Urgroßvater Wilhelm Franz August Gerbrecht in die mit über 90.000 Einwohnern schon damals große Hauptstadtregion der Provinz Pommern gekommen sein, denn seine am 25. Februar 1872 geborene Schwester Emma Elise Marie, jüngstes der fünf Geschwister, war im Gegensatz zu ihren vier Brüdern nicht mehr in Altdamm, sondern bereits in Stettin zur Welt gekommen. Doch erst sieben Jahre später, im Adreß- und Geschäfts-Handbuch von 1879, wird der Vater Carl Gerbrecht unter seiner Adresse am nördlichen Ende der Apfel-Allee verzeichnet:

Das Haus mit der Nummer 1c gehörte einer verwitweten „Kleinhändlerin“ namens „Ewaldt, W.“ und es ist unklar, wie lange die siebenköpfige Familie Gerbrecht hier zur Miete gelebt hat. Auch ist nicht bekannt, was Carl Gerbrecht genau bewogen haben mag, Anfang der 1870er Jahre nach Stettin zu ziehen. Der Wechsel stand aber mögli­cherweise in Verbindung mit dem von 1876 bis 1878 im Stadtteil Pommerensdorf an der Apfel-Allee 71-72 erfolgten Bau des „Neuen Städtischen Krankenhauses“, einer zu jener Zeit auf dem neuesten Stand befindlichen Einrichtung mit Fachab­teilungen für Psychiatrie, Urologie und Infektionskrankheiten.[1] Gewiss waren die Erwerbsperspektiven in einer prosperierenden Großstadt besser als in Alt­damm, und vielleicht sah der Pantoffelmachermeister die günstige Gelegenheit, eine wachsende Bevölkerung mit robustem Schuhwerk versorgen zu können. Ein anderer Grund mochte auch in seiner 1883 mit nur 45 Jahren früh verstorbenen Ehefrau liegen.[2] War Ida Marie Friederike Gerbrecht in jenen Tagen etwa schon schwer krank und bedurfte der besten medizinischen Versorgung?

Der obere Abschnitt der Apfel-Allee um die Jahrhundertwende (gelb markiert). Gut zu erkennen ist die Baustelle für die neue eingleisige Zugtrasse, die genau durch die Grundstücke mit den Hausnummern 14 und 15 führt (roter Pfeil). Am rechten Bildrand zu sehen ist die „Haltestelle Pommerensdorf“, Vorläufer des gleichnamigen Bahnhofs. An der Apfel-Allee 71-72 belegen ist das Gelände für das „Neue Krankenhaus“ (Ausschnitt aus dem Stadt­plan des Stettiner Adressbuchs von 1901, S. 719).

Im Jahre 1880 muss eine erneute Änderung der unübersichtlichen Häusernummerierung dringlich geworden sein, so dass die Einser- und Vierer­nummern jetzt in ein fortlaufendes zweistelliges und teilweise gegenläufiges Schema eingeordnet wurden. Auch schien die Vermieterin verstorben zu sein, denn das Haus mit der Nummer 1c, das nun die Nummer 18 erhielt und in dem neben dem „Vizewirth“ Carl Gerbrecht zwei weitere Parteien wohnten, stand „unter Administration“. Im Jahr darauf bekam es mit „Fräulein Benter“ zwar eine neue Eigentümerin, aber der Name Gerbrecht verschwindet von 1881 bis 1890 komplett aus den Adressbüchern.[3] Es ist schleierhaft, was in diesen neun Jahren, insbesondere nach dem Tode der Mutter 1883, geschehen sein mag. Aus den Angaben in der Sterbeurkunde von Ida Marie Friederike Gerbrecht und der Heiratsurkunde ihres Sohnes Franz Wilhelm August von 1888 ‒ dem älteren Bruder und Trauzeugen von Wilhelm Franz August ‒ wissen wir jedoch, dass die Familie während jener fünf Jahre in der Apfel-Allee 15 wohnhaft war. Denkbar ist demnach, dass der grundbesitzlose Ehemann und spätere Witwer sich in dieser Zeit durch einfache (Hilfs)Arbeiten verdingen musste und so vom Wohnungsnachweis per definitio­nem ausgeschlossen war. Aus unerfindlichen Gründen taucht Carl Gerbrecht dann im Jahre 1891 plötzlich als Mieter der genannten Parterrewohnung im Adressbuch auf (S. 71):

Der hier als „Holzpantoffelfabrikant“ bezeichnete Vater ist zwar bis ins Jahr 1893 unter dieser Anschrift gemeldet, aber es ist sein jüngster Sohn Hellmuth, der im Verzeichnis der Gewerbetreibenden der Stadt offiziell in der Rubrik der „Pantof­felmacher u. Händler“ zu finden ist. Um 1893 herum muss dann ein erneuter Um­zug, diesmal in die zwei Häuser weiter südlich gelegene Apfel-Allee 17, stattge­funden haben. Dieses Grundstück war noch 1889 als „Baustelle“ bezeichnet und erst im darauffolgenden Jahr als Wohnanschrift ins Adressbuch aufgenom­men worden. Alles deutet darauf hin, dass die Planungen für die neue Eisenbahnstrecke Stettin‒Jasenitz, der u.a. das Haus mit der Nummer 15 zum Opfer fallen würde, in der Bevölkerung bekannt waren.[4] Merkwürdigerweise ist es wieder Hellmuth Ger­brecht und nicht sein Vater, der von 1894 bis 1896 als Vertreter seiner Zunft genannt wird:

Doch auch im Haus mit der Nummer 17 kehrt keine Ruhe ein und noch im Jahr darauf findet ein Wechsel von der ersten in die zweite Etage ‒ und von „Carl“ in „Karl“ ‒ statt, wie die Adressbücher der Jahre 1894 (S. 80) und 1896 (S. 81) zeigen:

Mit dem Wohnsitz in der zweiten Etage der Apfel-Allee 17 geht 1896 offenbar eine rund 25-jährige Anwesenheit der Familie Gerbrecht im Stettin des 19. Jahr­hunderts zu Ende. Der Holzpantoffelfabrikant Carl Ferdinand Friedrich Gerbrecht, der 1911 im stolzen Alter von 76 Jahren verstirbt, hatte hier nicht nur den Tod seiner Ehefrau zu be­klagen, sondern durfte zwischen 1888 und 1902 auch die Vermählung seiner fünf Kinder miterleben.[5] Bis auf die Tochter waren alle Familienmitglieder aus Altdamm gebürtig und so liegt die Vermutung nahe, dass die Söhne, sofern sie sich nicht als eigen­tumslose Hilfsarbeiter und „Gehülfen“ ohne Wohnungsnachweis in Stettin durch­schlagen mussten, mit ihren Ehefrauen in den alten Heimatort zurückkehrten. Ein Indiz dafür besteht darin, dass mit der Aufnahme von Altdamm in die Adressbücher ab dem Jahre 1909 auch der Name Gerbrecht wieder vermehrt erscheint. Die Zeit in der Apfel-Allee aber war in jedem Falle endgültig vorbei.

Wer sich heute ‒ und sei es auch nur mit Hilfe von Google Street View ‒ durch die vielbefahrene Einfallstraße Aleja Powstańców Wielkopolskich bewegt, spürt kaum noch etwas vom Glanz der alten Apfel-Allee des fin de siècle. Nur auf alten Postkarten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg lässt sich dieser Charme erahnen. Auch manche der heutigen Wohnhäuser auf der dem Klinikum gegen­überliegenden Seite stammen noch aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie sich zweifelsfrei nachweisen lässt.[6] Von dem Ort aber, an dem unsere Vorfahren einst vor rund 130 Jahren gelebt haben, existiert keine Spur mehr. Heute befin­den sich hier die Böschung an der seit mittlerweile 17 Jahren für den Personen­verkehr stillgelegten Bahnstrecke von Stettin nach Ziegenort (polnisch Trzebież) und das Gelände der Bibliothek der Pommerschen Medizinischen Universität.

 

Haben Sie Ergänzungen zu den hier genannten Namen, siehe auch meinem Aufsatz Wilhelm Franz August Gerbrecht – Versuch einer Annäherung oder zu der hier besprochenen Anschrift Apfel-Allee in Pommerensdorf?

Ich freue mich auf eine Nachricht von Ihnen!

Peter Gerbrecht

 

Anmerkungen:

[1] Das neue Krankenhaus nahm laut Wikipedia am 2. Januar 1879 seinen Betrieb auf (URL: https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A4dtisches_Krankenhaus_Stettin). Die von Gropius entwor­fenen Originalgebäude stehen, wenn auch in heruntergekommenem Zustand, noch heute. Sie gehören seit 1948 zur „Pommerschen Medizinischen Universität Stettin“. Siehe Bilder dazu im Berlin-Szczecin-Blog (URL: http://b-zs.blogspot.com/) [beide aufgerufen am 18.11.2018].

[2] Der Sterbeurkunde nach wohnte die Familie 1883 schon in der Apfel-Allee 15. Das Haus stand ebenfalls am oberen Ende und wurde vermutlich im Winter 1897/98 zusammen mit der Nummer 14 abgerissen. Beide mussten einer projektierten „Ringstraße“ und „Ringbahn“, d.h. dem Bau einer Trasse für die am 15. März 1898 eröffnete „Stettin-Jasenitzer Eisenbahn“ weichen (siehe den Stadtplanausschnitt in Abb. 1). Die Grundstücke wurden in der Folge zunächst als „Baustellen“, später mit den Worten „existiert nicht“ gekennzeichnet. Offenbar schon im Vorfeld der Erschließungsmaßnahmen war die Familie zwei Häuser weitergezogen und lebte von 1893 bis 1896 in der Apfel-Allee 17.

[3] Dazu muss man wissen, dass Mietverträge mit „Gesinde“ in dieser Zeit üblicherweise über drei Monate abgeschlossen wurden und Mietwohnungen nach Ablauf des Vierteljahres ‒ sofern keine besondere Vereinbarung mit dem Eigentümer getroffen worden war ‒ geräumt werden mussten (siehe dazu die Bestimmungen zu Mietwohnungen z.B. im Stettiner Adressbuch von 1884 auf S. 482).

[4] Im Stadtplan des Adreß- und Geschäfts-Handbuch für Stettin von 1894 ist bereits eine „Projectirte Eisenbahn“ in die noch weitgehend unbebaute Vorstadt, aber eben auch mitten durch die Grundstücke der Apfel-Allee 11 und 12, eingezeichnet. Die zuständigen Behörden müssen den Streckenverlauf danach in Richtung Süden abgeändert haben, denn tatsächlich wurde das Gleis ja durch die Hausnummern 14 und 15 verlegt (siehe dazu weiter oben den Stadtplanausschnitt von 1901 in Abb. 1).

[5] Die fünf Hochzeiten in chronologischer Reihenfolge: 11.02.1888 Franz Wilhelm August (geb. 23.09.1861), 18.07.1891 Wilhelm Franz August (geb. 27.01.1863), 30.07.1892 August Franz Gustav (geb. 16.11.1866), 10.04.1895 Hellmuth Siegfried Johannes (geb. 10.07.1869) und 8.11.1902 Emma Elise Marie Nemitz geb. Gerbrecht (geb. 25.02.1872). Auf­fällig ist die verwirrende Namensähnlichkeit der drei älteren Brüder bzw. die Ideenlosigkeit ihrer Eltern.

[6] So z.B. das von dem Gärtner Otto Kieckhöfer im Jahre 1887 erbaute Haus an der alten Apfel-Allee 25, heute Aleja Powstańców Wielko­polskich 25, das als repräsentativ für die damalige bürgerliche Wohnarchitektur gelten kann.