Rita von Gaudecker wurde als Freiin von Blittersdorf am 14.04. 1879 in Molstow, Kreis Greifenberg geboren. Sie war das achte von neun Kindern des Carl Freiherr von Blittersdorf und dessen Ehefrau Ada Freiin von Behr. Am 13. April 1914 heiratete sie den Marineoffizier Gerhard von Gaudecker. Die Ehe blieb kinderlos. Nach Aufenthalten u.a. in Kiel, Triest, Konstantinopel und Wilhelmshaven übersiedelte das Ehepaar nach Pommern. Dort kümmerte sich Rita von Gaudecker um die Kinderheime, die unter der Trägerschaft des  Kapellenvereins standen. Im März 45 flüchtete das Ehepaar und landete nach Stationen in Berlin, Schleswig Holstein und Braunschweig schlussendlich im Alb-Donau-Kreis. Sie verstarb dort am 18. 3.1968.

Ihre Lebensarbeit galt der Betreuung und Erziehung bedürftiger und elternloser Kinder, sie schrieb etliche Kinder-und Jugendbücher und leitete von 1914 bis 1965  die Jugendhilfe des Kapellenvereins,  heute „Helferbund Rita von Gaudecker“. Auch die Schriftleitung des Vereinsblattes “Wir wollen helfen” lag in ihren Händen.

Vom Leben als Flüchtling in einem holsteinischen Gutshaus 1947 erzählt auch die folgende Geschichte, zu der uns  Dr. Rita Scheller freundlicherweise die Veröffentlichungsgenehmigung erteilt hat.

Aus Meine Kleine Laterne, Bechaufs Gelbe Reihe Nr. 29

Dreissig Engel

Wir haben Dezember 1947, – und wir, mein Mann und ich, – leben in einem großen holsteinischen Gutshaus zusammen mit 165 Vertriebenen, überwiegend Pommern, einigen Memelländern, einigen Schlesiern.

Putzar, Kirche, schwebender Posaunenengel unter der Decke
Putzar, Kirche, schwebender Posaunenengel unter der Decke Foto: Erell (Own work) CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Eben ist der Postbote da gewesen. Ein Brief von guten pommerschen Freunden: “Wie wehmütig mag diese Advents- und Weihnachtszeit auch bei Euch sein! Bilder der Heimat, Bilder der Kindheit bedrängen uns. Der Zauber Eures Deeper Hauses, das Rauschen der Ostsee, das silberweiße Leuchten der beschneiten Kiefern, das alles füllt Dir gewiss Auge und Ohr. Diese Wochen sind für uns Heimatlose eben doch die allerschwersten im Jahr.” Ich lese die Zeilen und schüttle den Kopf. Gewiss, liebe Maria, du hast natürlich sehr recht, nur soeben gerade bei mir, – bei uns, – heute nicht! Denn du hast keine Ahnung, wie dreißig Weihnachtsengel imstande sind, jede – aber auch jede besinnliche Wehmut zu vertreiben. Natürlich, – schon klopft es wieder.

“Frau von Jaudecker, meine Mutti lässt fragen, wo mein Engelkleid is und was ich auf den Kopp tun soll? Und Lieschen sagt, die Engels haben zumeist Flügel.”

Ich lege Marias Brief beiseite und höre meinen Mann hinter seiner Zeitung schadenfroh lachen.

“Da hast du dir was Schönes eingebrockt!”

Und er hat recht! Aber “was Schönes” blieb es trotzdem. Es kam nämlich so: Die zweiundvierzig Familien im Hause, zu denen siebzig Kinder gehörten, waren, genau wie wir selbst, alle in der Gefahr, voller Wehmut und Bitterkeit in die kommende Weihnachtszeit zu gehen. Zur Kirche waren es zwei Stunden Wegs, am Ort selbst war nur selten Gottesdienst. Eine innere Erquickung tat uns allen sehr not. In meinem sonntäglichen Kindergottesdienst lernte ich die reichlich wilde Schar gut kennen. Bei den schlimmen Raumverhältnissen, den meist fehlenden Vätern und übermüdeten Müttern war ein Verwildern wahrhaftig kein Wunder. So entstand denn mein Beschluss, eine Adventsfeier zu wagen und außerdem für den Heiligen Abend eine Andacht mit Weihnachtsbaum, Transparenten und Gesang vorzubereiten. Vielleicht gelang es auf diese Weise, die Nebelwand dumpfen Heimwehs etwas aufzuhellen. So ging ich denn ans Werk.

Aber – möchten S i e es wohl auf sich nehmen, unter siebzig Kindern – im Angesicht ihrer vierzig Mütter mutig auszuwählen, “wer dran kommt?” Ohne eine Saalschlacht mit furchtbarem Ausgang war das kaum denkbar. Bei näherer Betrachtung kamen mindestens dreißig kleine Mädchen in Frage. Die Jungens waren nicht so in der Überzahl, teils zu groß, teils noch zu klein. Die Menge der Hirten durfte, wenn auch für ein kleines Dorf wie Bethlehem, erstaunlich zahlreich, doch in erträglichen Grenzen bleiben. Graue Wolldecken, als Wollachs zu bezeichnen, wie sie auf jedem Bett des Hauses lagen, galten als nächtliche Mäntel für die Hirten. Die nötigen Hirtenstäbe oder Knüppel stellten sich bestimmt ohne mein Zutun ein. Woher, fragte man besser nicht.

Aber nun die Engel! In bezug auf ihre Anzahl hatte ich in jeder Hinsicht freie Bahn. Es ist ja von der “Menge der himmlischen Heerscharen” die Rede. Darum, – besser dreißig Engel herbeirufen, als Zwietracht zwischen innig befreundete Mütter und bisher neidlos kameradschaftliche Kinder säen. So ging ich an die Arbeit. Kaum eins der kleinen Mädels, im Alter von vier bis vierzehn Jahren, besaß ein weißes Kleidchen. Aber selbstverständlich wollte jedes traumhaft schön zu uns armen Erdenmenschen herniederschweben.

“Vom Himmel hoch, da komm ich her.”

Anders als in schimmerndem Weiß ist kein Engel denkbar. Ohne reichlich auf Haar und Gewand ausgestreute Silbersterne ebenfalls nicht. Also! Nie werde ich die mich Tag und Nacht jagenden Kostümnöte vergessen. Kein Wilddieb kann verschlagener seine Beute beschleichen, wie ich jeden Besitzer von weißen Blusen, entbehrlichen Bettlaken, Decken oder Servietten. Und natürlich vor allem: Her mit den Nachthemden! Egal, ob männlich oder weiblich. Wirklich, ich hatte mir “etwas Schönes” eingebrockt. Meines Mannes lächelnde Geduld war heldenhaft zu nennen. Keine zehn Minuten stand unsere Zimmertür still.

“Meine Mutti sagt, mich passt dat Hemd aber jarnich, dat is mich viel zu kurz.”

“Frau von Jaudecker, soll ich mit’n Zopp kommen oder aufgemacht?”

“Lene hat all sechs Sterne und ich man blos zwei. Wat nu?”

“Ja, wat nu?” das konnte auch ich sagen. Brandbriefe gingen ab an Hamburger Freunde: “Bitte, bitte Silberpappe, Goldpapier, Bänder, Sternchen.” –

geschnitzte Engel,
geschnitzte Engel, Bruchstücke aus dem Epitaph der Ernst Bogislaw Podewils (1651 – 1718) aus Suckow im Museum in Stolp http://www.muzeum.slupsk.pl/ Foto M.Ott

Kein englischer Modesalon vor Königin Elisabeths Krönung kann solche Angstqualen, Hoffnungen, Aufregungen und Anproben durchgemacht haben wie mein kleines Zimmerchen, das dreißig Engel unentwegt stürmten. Aber mir wurde Beistand zuteil. Päckchen mit Silberpapier, Bändern und Weihnachtssternen beglückten mein Herz. Geschickte Mütter brachten aus großen Servietten oder Windeln, aus Nachtjacken oder Unterhemden, Tischdecken und Handtüchern Gewänder zustande, die für unsere Begriffe – Weihnachten 1947 – geradezu zauberhaft waren. Ach, und diese Seligkeit all der eitlen kleinen Mädchen, wenn die aufgelösten, kräftig gebürsteten Haare mit einem Reif aus Silberpappe gekrönt wurden, wenn ein Goldgürtel den Übergang von einer alten Bluse zu zwei aneinandergehefteten Servietten freundlich verdeckte. An diesem Abend des ersten Advent kann ich mir kaum vorstellen, dass irgend jemand im Bereich meiner Bitten noch mit einem brauchbaren Nachthemd zu Bette ging. An allen Ecken und Enden unseres großen Hauses wurde gelernt, geprobt, gesungen! Die alten lieben Lieder, die ewig schönen Verheißungen, alles umgab uns in unzerstörbarer Herrlichkeit.

Und dann kam der ersehnte Abend. Vollgestopft war der große Saal mit Flüchtlingen und Einheimischen. Die wenigen Väter und die vielen Mütter, voll eines herzbewegenden Stolzes, dass heute einmal ihre Kinder, – die vielen bedrohlich bewaffneten Hirten nicht zu vergessen, – im Mittelpunkt standen. Nicht nur als Fremde mit leeren Händen, nein, heute waren sie es, die es uns allen zusingen durften:

“Der guten Mär bring’ ich so viel,
davon ich singen und sagen will.”
Ich fürchte, ich habe bei dieser Feier doch etwas weinen müssen, aber nicht aus bohrendem Heimweh, sondern aus seliger Freude, dreißig leuchtende, rotbackige Engelchen vor mir zu sehen. In einem unvergeßlich lichten Halbkreis standen sie da, besternt und bekränzt in Silber und Gold. Nirgends ein “Zopp”, nur aufgelöste, überraschend liebliche Haarwellen und alle miteinander tatsächlich in einem leuchtenden Weiß. Wie treu sangen und sagten sie alles Gelernte. Die unter ihren grauen Decken etwas räuberisch anmutenden Hirten stampften herausfordernd mit ihren geklauten Wanderstäben auf den Fußboden und sangen brav und hell:

“Oh beugt wie die Hirten anbetend die Knie,
erhebet die Händlein und danket wie sie.
Stimmt freudig, ihr Kinder, wer, sollt sich nicht freun,
stimmt freudig zum Jubel der Engel mit ein.”

Engel in der Jakobi-Kathedrale in Stettin
Engel in der Jakobi-Kathedrale in Stettin Bild von Jarosław Kociuba – INK361

Und die dreißig Engel jubelten mit, und die Mütter, denen freilich manche Träne doch über das müde Gesicht rollte, stimmten auch ein, denn wer, in aller Welt, sollte wohl dreißig weiß schimmernden Engeln widerstehen? Neben mir hörte ich tief und andächtig die Stimme meines Mannes. Galt unserm schmerzlich beschatteten Schicksalsweg nicht heute noch ganz besonders die ewig tröstliche Botschaft “Fürchtet Euch nicht”? So wendeten wir denn unsere bedruckten Herzen der großen Freude zu, die Hirten und Engel uns verkündeten, und wir alle miteinander, Vertriebene und Einheimische, waren an der Krippe daheim. Unvergesslich schöner Abend, wie deutlich bist du heute wieder vor mir aufgestiegen.

Was es aber dann in den nächsten Tagen an unbeschreiblicher Aufregung, komischer Verwechslung, Gesuche und Gerenne gab, bis all die dreißig Engelsgewänder wieder in die Hände ihrer Eigentümer zurückkehrten, das zu beschreiben, ist meine Feder ohnmächtig. Jedenfalls atmete mein Mann hörbar auf, als auch dies überstanden war und er nicht nur wieder ein eigenes Nachthemd besaß, sondern auch unsere Tür in den Ruhestand trat.

Er meinte mit Recht, sich in diesen Wochen, wenn auch kein Engelsgewand, so doch eine Engelsgeduld erworben zu haben.

Das alles liegt nun zwölf Jahre zurück, und aus den dreißig überwiegend pommerschen Engeln werden unterdessen große Mädchen, vielleicht auch schon Frauen und Mütter geworden sein. Möchte über ihrem Weg auch heute wieder die große Freude aufleuchten, die sie uns damals verkündeten, und die uns allen am Heiligen Abend entgegenstrahlt.

Rita von Gaudecker

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Die Stiftung Rita von Gaudecker unterstützt in Zusammenarbeit mit der Diakonia Polonia und dem Stephansstift Hannover bedürftige Menschen und Einrichtungen in Deutschland und Polen. Hauptaufgabe ist die  Betreuung der letzten evangelischen Deutschen in Polen. Neu hinzugekommen ist die Bezahlung der Fahrdienste für die hinfälligen Menschen zu kirchlichen Veranstaltungen wie Gottesdiensten und Bibelstunden, für die sich die Ortsgemeinde in Köslin nicht mehr verantwortlich fühlt. Neben einer Diakoniestation in Köslin wird in den pommerschen Diasporagemeinden in Stettin und Stolp  die kirchliche Jugendarbeit unterstützt.

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