Ein Beitrag von Michael Krüger

 

Im November 1944 kamen wir, meine Mutter Lina Littmann geboren 1907, meine Schwester Helga geboren 1932 und ich, Gisela geboren 1930, im Bahnhof Altenwillershagen, mit dem Zug aus Ostpreußen an. Mit dabei waren außerdem meine Cousine Marianne Littmann, geboren 1935, meine Großmutter Auguste Lange, geb. Ferner geboren 1889 und meine Tante Martha mit ihren drei Kindern im Alter von 5, 3 und ¼ Jahr.

Wir wurden in ein Gasthaus in Ahrenshagen zum Übernachten gebracht. Am nächsten Morgen wurden die Flüchtlinge aufgeteilt und auf Leiterwagen der verschiedenen Bauern abgeholt.

Wir, d.h. alle 9 Personen, wurden der Familie Rothenberg in Prusdorf zugeteilt.

Lage des Ortes Prusdorf, Screenshot Mapcarta.com, CC BY-SA 4.0

Die ersten Tage und Nächte wohnten wir im Insthaus, neben den französischen Gefangenen. Außer uns gab es noch eine Familie aus der Pommerschen Gegend, deren Mutter Brustkrebs hatte.

Dann wurden wir umverteilt in das Schlafzimmer mit Kabinett ins Gutshaus der Familie Rothenberg.

Am Jahresanfang besuchten meine Schwester und ich die Schule in Ahrenshagen bis zum Kriegsende.

Ich besuchte auch den Konfirmandenunterricht in Trinwillershagen und wurde dort kurz vor Kriegsende an einem Dienstag von Pfarrer Naß notkonfirmiert. Ein besonderes Privileg war, dass wir mit der Kutsche zur Kirche gefahren wurden. Am Abend spielten die Gefangenen auf dem Akkordeon zur Feier des Tages. Sie schenkten uns auch Seife, die sie aus der Heimat zugeschickt bekommen hatten.

Frau Rothenberg habe ich als kleine, zarte, aber sehr resolute Frau in Erinnerung, die den Russen auch Kontra gab, z. B. wenn sie die kleinen Ferkel schlachten wollten.

Der Gutsherr von Rothenberg, es müsste Friedrich Wilhelm Rothenberg gewesen sein, war nicht mehr auf dem Gut, und der Sohn war im Krieg.

Am 7. Mai kam das katastrophale Ende. Am Vormittag sahen wir von Pantlitz her die Russen auf ihren Pferden herankommen. Zeitungen und Nachrichten gab es ja keine.

Die Vorhut, so erinnere ich mich, war noch ganz human (und nüchtern), aber es endete, wie überall, mit Trinken und Vergewaltigungen. Auch meine Mutter und meine Tanten, die inzwischen auch bei uns Zuflucht gefunden hatten, mussten Schreckliches erleben.

Im Gutspark spielten sich Dramen ab. Ich war erst 14 ½ Jahre alt und wurde im Babybett versteckt. Ich erinnere mich, dass sie sogar mit Pferd im Zimmer waren.

Nach Tagen beruhigte sich die Lage. Die Kommandanten versuchten, die Lage in den Griff zu bekommen und wir fingen an, auf den Feldern zu helfen. Da ich ziemlich klein und zierlich war, immer hungrig, konnte ich kaum mithalten, aber es ging ums Überleben.

Trotzdem waren wir froh, dass der Krieg endlich zu Ende war, auch wenn wir wenig zu essen hatten.

In jenem Sommer 1945 habe ich viele Erfahrungen für mein Leben gemacht und in und aus der Landwirtschaft gelernt. Das Beste war, dass wir auf dem Feld mit Vesper verpflegt wurden und manchmal sogar in der Pause in der Regnitz badeten.

Mein Vater Erich Littmann wurde im Herbst 1944 als vermisst gemeldet. Er kam 1945/46 aus Ufa, Sibirien nach Deutschland zurück und fand uns über das Rote Kreuz in Prusdorf. Da war ich nicht mehr dort, ich war von meiner Mutter mit dem Zug nach Hamburg zu unseren Verwandten verladen worden, wo ich am 16. Januar 1946 eine Lehre zum Fotografen begann. Aber das ist eine andere Geschichte.

Meine Großmutter Auguste Lange wurde auf dem Friedhof in Ahrenshagen begraben und auch Manfred Schakau, der siebenjährig verstarb.

Prusdorf besuchte ich vor vielen Jahren, damals war ich schon Großmutter, zusammen mit meiner Freundin, da konnte ich leider fast nichts mehr vorfinden, außer einem eisernen Tor. Das Gutshaus und der Teich waren fort, alles nicht wiederzuerkennen.

Mir fällt noch ein: Auch eine junge Frau Zismer, aus Hamburg mit zwei Kinder, die eine Wäscherei oder Heißmangel in Eimsbüttel hatten, war zeitweilig in Prusdorf gewesen.

Diese Geschichte hat mir meine inzwischen 92-jährige Mutter erzählt.

Seitdem versuche ich mit ihr gemeinsam, mehr über die Geschichte des Gutes in Prusdorf und zum Verbleib der Familie Rothenberg herauszufinden. Was ist aus den damaligen Gutsbesitzer Rothenberg geworden, wo ist diese Familie verblieben?

Ich freue mich über jeden Hinweis!

Michael Krüger