Ein Gastbeitrag von Hilde Stockmann

 

Lösungsweg durch viele Zufälle vom 23. August 2005 bis 09. September 2005.

Am 23. August 2005 kam von einer Dame aus Berlin eine Anfrage an das Fremdenverkehrsamt Seebad Zempin auf der Insel Usedom nach der Person:

E. H., geboren 1916 und 1939 als in Zempin (Usedom-Wollin) ansässig registriert. Erschwerend bei der Suche kam hinzu, dass die Geburtsurkunde in Stettin ausgestellt war (vielleicht war die Entbindung im Krankenhaus?) und die Dame durch Suche in militärischen Listen auf den Wohnort Zempin auf Usedom gekommen ist. Die Dame hatte bereits Forschungen betrieben und herausgefunden, dass H. 1943 in Frankreich militärisch stationiert war.

Ich erfragte, ob sie mit der Familie verwandt sei. Das verneinte sie und in einem Telefongespräch erklärte sie mir, warum sie diese Person sucht:

Ihre Freundin hatte ihr immer wieder mal erzählt, dass sie doch gern ihren Vater im Leben gehabt hätte. Sie ist 1944 in Frankreich geboren. Ihre Mutter war eine französische Zahnarzthelferin und ihr Vater ein „deutscher Besatzer“. Ihr Vater hat sie als Baby erlebt, aber nach Kriegsende war ihre Mutter eine „Verräterin“ und er musste das Land verlassen. Die Mutter mit ihrem Kind wurde in der eigenen Familie schwer drangsaliert. Sie musste es in ein Wochenheim geben. Das Kind spürte die große Ablehnung besonders ihrer Großeltern und hat in der Woche extra Unfug bereitet, damit sie zur Strafe übers Wochenende im Heim bleiben konnte.

Ihr Gedanke war immer, mein Vater würde mir helfen. Sie war inzwischen schon über
60 Jahre alt und hatte ihren Vater noch nicht gefunden. Aber ob er noch lebt? Der Vater wäre schon 89 Jahre alt.

Ich bin zur Wende bis 2004 ehrenamtlich Bürgermeisterin in Zempin gewesen. Es war keine einfache Zeit, aber ich wollte mithelfen, in Zempin die neue Zeit zu gestalten. Zur Erinnerung – Mitte Mai 1990 wurde ich gewählt. Bis 30.06.1990 wurde es durch die Modrow Regierung möglich, Grundstücke die mit Häusern zu DDR Zeiten bebaut wurden oder alte Häuser die verstaatlicht und weiterverkauft wurden ohne Grundstück, nun den Grund und Boden für 1,- Ostmark pro m² zu kaufen. Ab 01.07.1990 kam die DM für alle. Nach der Einheit Deutschland kam das Gesetz der Rückführung oder Entschädigung von Grundstücken. Dabei waren die Bürgermeister sehr gefragt.

Durch dieses Gesetz musste ich mich mit Flurkarten, Mutterrollen und Grundbücher befassen. Eine ehrenamtliche Bürgermeisterin hatte und bekam keinerlei Ausbildung auf diesem Gebiet. In dem kleinen Seebad Zempin gab es ca. 350 Haushalte und davon
52 Rückführungsanträge.

Ich habe mich schon als junge Frau für die Familiengeschichten interessiert habe, denn die Familie meines Mannes hatte schon 1924 einen Familienverband gegründet, der bis heute besteht und jährlich eine kleine Zeitung verschickt. Diese kam auch mit Westpäckchen versteckt z.B. in Spültüchern an. So bin ich auch seit 2002 Mitglied im Pommerschen Greif.

Im Nachbarhof wohnte die alteingesessene Familie L. und brachte mir alte Urkunden, da ein L. mal Schulze des Ortes war. So hatte ich schon einen schönen Stammbaum der Familie erarbeitet.

So wusste ich gleich, nach der Anfrage nach E. H., dass seine Mutter eine geborene L. war und beide Eltern aus Zempin stammten und Grundstücke hatten.

Die Gemeinde hatte im Jahre 2000 eine Straße saniert und musste nun nach Gesetz die Kosten umlegen. So kam es, dass die Besitzer gesucht wurden. Ein Rückführungsantrag lag von einem E. H. vor. Die Gemeinde schrieb, er könne das Grundstück zurückerhalten, müsse aber die Umlagen für die Straße gleichzeitig bezahlen. Das lehnte er ab, denn er hatte seit 1945 die DDR nicht betreten und wusste auch nicht, wie sein Grundstück aussieht.

Mit diesem Briefwechsel kam ich an die Adresse des Gesuchten in Süddeutschland und teilte diese der Dame mit. Nun hat sie den Ort und den Namen bei der Verwaltung und im Telefonbuch gesucht und bekam eine negative Antwort. Sie überlegte, ein alter Mensch braucht bestimmt einen Pflegedienst. Alle diese Betriebe des Ortes rief sie an und erhielt die Auskunft: Eine Betreuerin besucht 1x in der Woche einen Herrn H.. Dieser „Engel“, die Dame mir am 30. August 2005 schrieb, bereitete das Treffen zwischen Vater und Tochter vorsichtig vor.

Ich konnte vorher viele Bilder über die Familie und eine Chronik des Seebades Zempin an die Freundin senden.

Warum hat der Vater die Tochter nicht gesucht? Er war verheiratet seit 1944 mit einer Frau, mit der er noch nie zusammen gelebt hatte. Vielleicht auf Druck des deutschen Militärs? Er versorgte sie bis zu seinem Tode. Er hatte aber seit Jahren eine Lebensgefährtin.

Am 02.09.2005 teilte mir die Dame mit, dass das Treffen mit vielen Freudentränen stattgefunden hat und er möchte auch seine Enkelkinder sehen.

Seine Tochter ist verheiratet und hat drei Töchter. Die Familie lebt in der Schweiz. Sie konnten den 90. Geburtstag des gefundenen Vaters zusammen, mit den für ihn so unverhofft erhaltenen drei Enkeltöchtern und sechs Urenkeln von 2-18 Jahren, verbringen.

E. H. hat leider eine Reise auf die Insel Usedom nicht mehr unternehmen können.

Im Juli 2006 besuchte die Tochter mit Mann und Freundin den Kindheitsort des Vaters und ich konnte ihnen den Ort seiner Kindheit etwas näher bringen.

E. H. ist am 14. Februar 2008 verstorben. Im Juni 2010 erfüllte sich sein Wunsch einer Seebestattung im Zempiner Achterwasser. Sein einziges Kind, eben diese Tochter mit ihrem Mann und ihre Freundin, die damals mit mir Kontakt aufgenommen hatte, war es ein besonderes Erlebnis und der gute Abschluss einer großen Sehnsucht.

 

 

3 Gedanken zu “Kriegskind sucht Vater”

  • Eine wunderschöne Geschichte und wie man sieht, es ist nie zu spät. Ich weiß aus Erfahrung, auch die nächste Generation hat sehr oft viele Probleme, wenn die Familiengeschichten so “in der Luft” hängen.
    Vielleicht kann ich Menschen dazu anregen ihre Geschichten mit so vielen autentischen Namen wie möglich aufzuschreiben. Die Personen sind lange verstorben, so ist der Datenschutz ohne belang. Auch so kann ein Knäul entwirrt werden. Die Veröffentlichung ist wichtig.

  • Ein schöner Beitrag. Er zeigt die teils tragische Vielfalt des Lebens. Alles fand hier ein relativ gutes Ende. Als Leiter einer Gesprächsgruppe für Kriegskinder hörte ich solche gut endenden Lebensgeschichten leider auch mit schwer erträglichen Details. Es gibt allerdings nicht selten Lebensgeschichten mit unglücklichem Ende. Bei denen konnten Familien nicht zusammenfinden. Dabei spielt die Menschenverachtung der “unvergessenen” Nazi-Ideologie eine tragische Rolle, kombiniert mit der nicht existenten Erbschaftsgier. Das normale Leben ist wohl doch fast immer ein “Krimi”.

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