Adventslegende

Von dem Gipfel eines Berges, gar lieblich gelegen, schaute eine kleine Kapelle weit in die Lande. Sie blickte auf der einen Seite auf einen großen Tannenwald, dessen Konturen sich im matten Violett bis zum Horizont hinzogen. Auf der anderen Seite, ihr zu Füßen, lag ein freundliches Tal, durch das ein silberklares Bächlein floss, an dessen Ufern sich die Menschen ihre Wohnungen errichtet hatten. Fast zwei Jahrhunderte stand das Kapellchen schon auf seiner luftigen Höhe.

Es hatte den Wandel der Zeiten miterlebt, Zeiten, in denen die Menschen satt und zufrieden waren, und andere, in denen sie von Hunger und Seuche heimgesucht wurden, dann wieder herrliche, sorglose Friedensjahre und lange, bange Kriegsjahre. Auch hatte es Menschen in all der Zeit kennengelernt und gemerkt, dass sie, wenn sie in Not und Bedrängnis waren, in Scharen zu ihm hinauf gepilgert kamen, um in seinem Innern zu beten, wenn es ihnen aber besser ging, dann hatten sie viel seltener den Weg zu ihm gefunden, und es hatte die Erfahrung gemacht, dass den meisten Menschen das Danken weit schwerer wird als das Bitten. Die Kapelle wurde von einem spitzen Türmchen gekrönt, das wie ein mahnender Finger gen Himmel wies, und in dessen Innern ein Glöckchen hing, ebenso alt, wie das Kapellchen.

Die kleine Glocke kündete jeden Morgen in aller Frühe mit heller Stimme, dass wieder ein neuer Tag heraufgezogen sei, mittags verhieß sie den Menschen eine Ruhepause von ihrer Arbeit und läutete, wenn der Tag sich neigte, mit mildem Klang den Feierabend ein. An den Sonn- und Feiertagen rief sie mit lockender Stimme und lud zur Andacht ein; wenn in Kriegszeiten ein Sieg erfochten war, dann jubelte sie in die Weite, und manchen müden Schläfer geleitete sie mit dumpfem Ton zur letzten Ruhe.

Die Menschen im Tale kannten das Glöckchen wohl, und vielen war es ein lieber Mahner und Weggesell geworden. Andere aber waren abgestumpft, und seine Stimme bedeutete ihnen nichts Besonderes mehr im Geräusch des Tages. Einmal aber fing das Glöckchen an, so überirdisch schön zu läuten, dass alle Menschen aufhorchten, auch die, die sonst nicht mehr darauf geachtet hatten. Sie ließen ab von ihrer Arbeit, eilten auf die Gassen, um deutlicher hören zu können, und einer fragte den anderen: „Hörst du das holde Leuten, wer mag den Klang uns deuten?”, und sie verwunderten sich sehr.

Da kam ein altes Mütterchen am Stock daher und sagte: „Ich habe in meinem langen Leben die Sprache des Glöcklchens verstehen gelernt, der süße Ton, der zu uns herüberschallt, bedeutet: „Es ist Advent, es ist Advent”. Und alle Menschen, die gelauscht hatten merkten, dass das Mütterchen recht hatte, sie kehrten froh in ihr Heim zurück und arbeiteten an dem Tage nicht mehr.

Um Mitternacht aber, als alle Menschen schliefen, stieg die Glocke eilends von ihrem Stuhle herab und trippelte ins Tal und schlich leise in die Hütten der Armen und in die Häuser der Reichen. Einem Armen flüsterte sie zu: „Sei getrost, Einer wird kommen, der war ärmer als Du, denn er hatte nichts, wo er sein Haupt hinlegen konnte, und er kann doch Viele reich machen”. Einem Kranken sagte sie lind: „Einer steht vor der Tür, der hat mehr gelitten als alle, und er will dein Arzt sein und dich heilen.” Einen Gesunden mahnte sie mild: „Mache es wie der Eine, dessen Kommen bevorsteht, wirke solange es Tag ist, ehe die Nacht kommt, da niemand wirken kann”. Und als sie an die Bettchen der Kinder kam, da raunte sie ihnen mit Engelstimme ins Ohr: „Freuet euch, ‘s Christkindchen kommt bald!”.

Und als die Menschen, große und kleine, arme und reiche, gesunde und kranke am Morgen erwachten, da war es ihnen, als hätten sie alle einen wunderlieblichen Traum gehabt. Ihre Augen wurden heller, ihre Herzen froher und getroster und ihre Hände williger, und sie spürten es, Adventszeit war gekommen. Und das Glöckchen, das wieder auf seinem alten Platz hing, war glücklich, dass es den Menschen solch frohe Botschaft bringen konnte und es freute sich schon darauf, dass es ihnen bald wieder läuten durfte: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen”.

 

Quelle: Evangelischer Gemeindebote, Monatsbeilage zum Greifenberger Kreisblatt, Nr. 12, Dezember 1930, Digitale Bibliothek MV, LINK ZUR SEITE