Ein Beitrag von Wolfram Stratmann

 

Wie häufig in der privaten Familiengeschichtsforschung verfolgt man Nebenspuren, um etwas über nahe Verwandte zu erfahren. Bei mir ergab sich so ein Suchansatz während eines Tagesausflugs im Jahr 1990: In Ahlbeck auf der Insel Usedom bestritt meine Mutter jemals dort gewesen zu sein und etwas mit der Kinderlandverschickung (KLV) und KLV-Lagern zu tun gehabt zu haben. Das, direkt nachdem wir in Ahlbeck aus dem Auto stiegen und nachdem wir Hunderte Kilometer weit zur Auffrischung ihrer Erinnerungen dorthin gefahren waren. Eventuell gab es ein Missverständnis. Sie wollte mal wieder nach Ahlbeck und über die Kante auf die Ostsee gucken und wir glaubten, das bezieht auch Ereignisse aus ihrer etwa fünfzehnjährigen Zeit mit der Insel Usedom ein.

Kinderlandverschickung, Kinder beim Ballspiel, Bundesarchiv, Bild 183-B03553 / CC-BY-SA 3.0

Der Stimmungsumschwung war für mich Anlass zu Nachforschungen. Was hatte diese Frau zwischen 1942 und 1945 dort gemacht? Die Informationssuche lief gleich vor die Wand. Alle Befragten wussten eigentlich nichts. Es ließen sich nicht einmal die Standorte der KLV-Lager um Ahlbeck ermitteln. Die Sache rückte an den Forschungsrand. Nach etwa 31 Jahren fand ich zufällig den vielversprechenden Hinweis auf das Buch von Erich Maylahn, Auflistung der KLV-Lager, Dokumente und Berichte zur erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 1, 2004, 195 Seiten, ISSN 1613-7248; ISBN 978-3-89733-116-7. Das Buch kann man nicht mehr kaufen und die Fernleihe erwies sich als nicht machbar. Zum Buch fand sich eine Kritik, die die ungenaue und teilweise falsche Nennung der KLV-Lager beanstandet. Trotzdem blieb mir die Hoffnung, in dem Buch eine Liste der KLV-Lager auf der Insel Usedom zu finden.

Meine weitere Recherche brachte viele Hinweise auf Schriften zu KLV-Lageraufenthalten, aber keine Schrift mit Überblick. Es fand sich sogar im Internet die Nachricht, von der KLV-Verwaltung gäbe es keine Unterlagen mehr. Das passte zu meinen Begegnungen mit erinnerungslosen Menschen, Behörden und Archiven. Die KLV-Lager konnten doch nicht völlig vergessen worden sein. Es musste damals Organisatoren, Ansprechpartner, Lagerpersonal und Inspektoren für die Lager gegeben haben. Schließlich mussten die mehr unfreiwillig aufs Land geschickten Kinder verpflegt und schulisch betreut werden. Dann kam mir der Gedanke, dass die grassierenden Erinnerungslücken eventuell wegen der politisch korrekten und inzwischen etablierten KLV-verabscheuenden Literatur sein könnten. Diese Schriften beschäftigen sich mit psychischer Folter der Kinder und standen im krassen Gegensatz zu den in Buchform veröffentlichten kindlichen Erinnerungen an solche Lager. Dieses deutschlandtypische Spannungsfeld, unter dem speziellen deutschen Mantel der Geschichte, verhindert anscheinend eine Auseinandersetzung mit den KLV-Lagern und deren Zweck im Zweiten Weltkrieg.

Dann fand ich das Buch vom Autor Heinz Vonjahr, Kinderlandverschickung Kasseler Schulen 1943 – 1945. Als Druck herausgegeben im Jahr 2004. Elektronisch herausgegeben im Jahr 2011. Nationalsozialismus in Nordhessen, Schriften zur regionalen Zeitgeschichte, herausgegeben vom Fachbereich Erziehungswissenschaft/ Humanwissenschaften der Universität Kassel, Redaktion: Dietfrid Krause-Vilmar, Band 21.

Zum Beispiel kostenlos elektronisch erhältlich bei:

https://docplayer.org/29294705-Heinz-vonjahr-kinderlandverschickung-kasseler-schulen.html

Der Autor hatte Zugang zu regionalen Archivteilen, die mir bisher verwehrt blieben. Er hatte auch die Möglichkeit in Schulen, Schulämtern und Landesarchiven Archivalien einzusehen. Dabei stellte er die gefundenen Fakten, aus meinem Blickwinkel, so zusammen wie man es sich als Geschichtsforscher wünscht. Es werden auch Personen mit ihren Funktionen genannt. Die PDF-Version des Buchs habe ich und kann sie bei Bedarf weitergeben.

Am Schluss seines Textes beschäftigt sich der damals 72-jährige Autor mit dem Spannungsfeld unter dem deutschen Geschichtsmantel. Zitat aus seinem Buch Seite 243:

„Im Laufe eines Lebens, das mehr als 70 Jahre währt, sind die 15 oder 18 Monate KLV-Zeit keine lange Epoche. Aber allen, die durch die KLV-Lager gegangen sind, ist diese Zeitspanne im Gedächtnis. Die meisten erzählen gern davon, viele begeistert. Für nicht wenige, mit denen ich gesprochen habe, scheint das KLV-Lager eine Art Schutzgebiet gewesen zu sein zwischen den Schrecken des Bombenkrieges und dem Hunger der Nachkriegszeit. Wie kommt das? Woran liegt es insbesondere, dass kaum jemand sich an die nationalsozialistische Indoktrination erinnert? Das fröhliche Lagerleben, die erlebte Kameradschaft haften im Gedächtnis. Die meisten aber meinen, politische Beeinflussung habe es in ihrem Lager nicht gegeben.

Eva Gehrken bietet einen Erklärungsversuch an 255: „Die Kinder und Jugendlichen in den KLV-Lagern hatten sehr wahrscheinlich die Selbstverständlichkeiten der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, innerhalb derer sie aufwuchsen, unbewusst und unreflektiert bereits verinnerlicht, bevor sie in die Lager kamen. Ihre Primärsozialisation hatte sich innerhalb des NS-Staates vollzogen. Da sie überwiegend den Jahrgängen 1927 – 1934 angehörten, kannten sie aus eigenem Erleben und Erfahren keine Gegenwelt, abgesehen von den Ausnahmen, bei denen im Elternhaus versucht wurde, eine Gegenwelt aufzubauen.“

Für die Kinder gab es damals eine andere Welt als sie heute politisch korrekt verkündet wird. Das zeigt auch der Erfahrungsbericht einer deutschen Schülerin, die nach dem Krieg in Brasilien lebte: „Wir fuhren mit der Schulklasse im Zug aufs Land. Da gab es einen Fliegeralarm. Der Zug hielt an. Alle rannten aus dem Zug ins freie Gelände. Ich bleib einer plötzlichen Eingebung folgend im Zug. Dann fielen Bomben. Fast alle draußen rumlaufenden Kinder und Lehrer waren tot. Der Zug blieb heil. Ich überlebte unverletzt.“ Das nachhaltige Grauen dieser Schülerin kann man sich vorstellen.

Ich denke mit lebenserfahrener Gelassenheit und interdisziplinärem Blick für wissenschaftliche Methodik kann man sich dem Thema KLV-Lager durchaus angemessen nähern und diesen Teil der deutschen Geschichte aufklären. Schließlich waren viele Kinder in den etwa neuntausend Lagern und die Lager waren vor Ort ein soziales Versorgungsproblem. Etliche Kinder kamen nach Kriegsende zu Fuß in ihre weit entfernten Heimatorte.

 

Einige Hinweise zu den Quellen:

Über Erich Maylahn fand ich wenig, aber den Hinweis er habe in unermüdlicher Recherche seine KLV-Liste erstellt. Sein Buch liegt weltweit in Bibliotheken. So auch im United States Holocaust Memorial Museum, 100 Raoul Wallenberg Place, SW Washington, DC 20024-2126.  https://collections.ushmm.org/search/catalog/bib99707

Erich Maylahn, Auflistung der KLV-Lager, Dokumente und Berichte zur erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 1, 2004, 195 Seiten, ISSN 1613-7248; ISBN 978-3-89733-116-7. Das Buch kann man nicht mehr kaufen und die Fernleihe erwies sich als nicht machbar.

Der Autor Heinz Vonjahr war Pfarrer und Historiker im deutschen Nordhessen.
Heinz Vonjahr, Kinderlandverschickung Kasseler Schulen 1943 – 1945. Als Druck herausgegeben im Jahr 2004.

Der verantwortliche Redakteur für die zweite Herausgabe Prof. Dr. Dietfrid Krause Vilmar ist emeritierter Professor. Er setzte sich auch gegen Widerstände kritisch mit den Verhältnissen während der NS-Herrschaft auseinander. Was bei Altnazis zu wütenden Beschimpfungen führte. Einige dieser Tiraden erlebte ich. Mindestens eines seiner gedruckten Bücher gelangte deshalb nicht in den freien Verkauf, obwohl die Arbeit daran und die Produktion von der öffentlichen Hand bezahlt wurde.

Das Vonjahr-Buch wurde elektronisch herausgegeben im Jahr 2011. Nationalsozialismus in Nordhessen, Schriften zur regionalen Zeitgeschichte, herausgegeben vom Fachbereich Erziehungswissenschaft/ Humanwissenschaften der Universität Kassel, Redaktion: Dietfrid Krause-Vilmar, Band 21.

https://de.wikipedia.org/wiki/Dietfrid_Krause-Vilmar

https://www.uni-kassel.de/fb01/institute/institut-fuer-erziehungswissenschaft/fachgebiete/websites-emeritierter-und-pensionierter-professorinnen/prof-dr-dietfrid-krause-vilmar

Die Schülerin aus der Erlebnisgeneration kannte ich. Sie erzählte von dem Zugangriff während eines Essens. Das traumatische Erlebnis schilderte sie so beiläufig, dass man es als junger Zuhörer schnell wieder vergaß. Erst als ihr Sohn es jetzt wieder erwähnte, wurde mir bewusst, was die Schülerin erlebt hatte. Mir ist auch der ungefähre Standort des Zuges beim Luftangriff bekannt.

Deutsche Allgemeine Information

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Kinderlandverschickung

Info der bayrischen Landesregierung, die auch die Rechte an „Mein Kampf“ verwaltet, bayrische Staatsbibliothek.

https://de.wikipedia.org/wiki/Kinderlandverschickung

https://www.planet-wissen.de/geschichte/nationalsozialismus/kindheit_im_zweiten_weltkrieg/pwiekinderlandverschickung100.html

 

 

3 Gedanken zu “Mein Forschungsansatz zur Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg”

  • Mein Name ist Gerhard Wöhner, Jahrgang 1931, Mitglied im Pommerschen Greif e. V. seit der Gründung, Nr. 51.
    Nachstehend ein Auszug aus meinen Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1943 zur Kinderlandverschickung in Pommern.

    “In den Schulferien im Sommer 1943 hatte ich ein grosses Erlebnis. Ausgewählt mit 30 Jungen und Mädchen fuhren wir mit dem Zug von Graudenz
    in Westpreussen nach Heringsdorf auf der Insel Usedom, wohnten nicht in einem grossen Lager, sondern in einer Villa in der Delbrückstr.. Wir wurden von
    NSV Schwestern betreut und verlebtenbei Spiel, Sport und Baden in der Ostsee unbeschwerte Wochen. Die Kinderlandverschickung war überwiegend für 10 – 14jährige Kinder aus gefährdeten Gebietengedacht, sie vor den zunehmenden Luftangriffe in Sicherheit zu bringen. Wir kamen aber vom Regen in die Traufe.

    Am späten Abend des 17. August 1943 wurden wir aufgefordert, warme Kleidung anzuziehen. Wir wurden 500 Meter von unserem Heim entfernt in einen Eiskeller geleitet, wo Bier und andere Getränke gelagert wurden. Es gab in unserem ruhigen 0stseebad Heringsdorf Fliegeralarm. Wir waren Alle sehr ängstlich. In dieser Nacht vom 17. zum 18. August 1943 entluden fast 600 Bomber der Royal Air Force ihre todbringende Last über dem Norden der Insel Usedom. Ziel des Angriffs war die Heeresversuchsanstyalt in Peenemünde, die Raketenwaffen wie die V2 entwicklelte und auf England abschloss. 700 Menschen, überwiegend Zwangsarbeiter und Einheimische fielen dem Angriff zum Opfer. Wir konnten im Morgengrauen wieder in unser Haus zurückkehren und richtig ausschlafen.”

  • “Für die Kinder gab es damals eine andere Welt als sie heute politisch korrekt verkündet wird.” Im nächsten Satz: Zig tote Kinder und Lehrer am Bahndamm. Da fragt man sich schon, was heute angeblich “politisch korrekt” verkündet wird. Ach ja, längere Trennung von den Eltern fanden Kinder damals schon Mist.

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