Old Book
Old Book by David Kennedy via wikimedia commons CC-BY-3.0
Fast genau vor einem Jahr gab es eine Petition: Der Bestand der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz darf nicht zerschlagen werden. Diese Petition erreichte 5538 Stimmen. Sie war insofern erfolgreich, als man von den Plänen zur Aufteilung der Bibliothek Abstand genommen hatte.

„Unsere“ Petition steht jetzt, 5 Tage vor Schluss, bei ca. 3630 Stimmen, wird also wohl nicht die Zahl der Stimmen für Mainz erreichen. Von diesen Stimmen kommen ca. 200 aus Stralsund, aber 500 aus dem Ausland. Schade um die geringe Beteiligung aus der Stadt selber, aber vielleicht auch verständlich: In einer wirtschaftlich gebeutelten Region ist den Menschen vieles wichtiger als „alte schimmelige Bücher“. Wie hieß es doch in einem Leserbrief in der Ostseezeitung am 24.11.2012? „Ich selbst habe gern einmal auf die umfangreichen Bibliotheksbestände des Archivs zurückgegriffen, konnte ich mir doch dadurch manche Fahrt nach Greifswald in die Universitätsbibliothek ersparen, muss aber auch hinzufügen, dass es sich oft um ältere Auflagen von Werken zur pommerschen Geschichte handelte, die letztlich im wissenschaftlichen Diskurs heute nicht mehr ohne Weiteres zitierfähig sind, d. h., deren Wert auch dadurch eingeschränkt ist.“ ? Da schüttelt man den Kopf.

Zeit um ein vorläufiges Fazit zu ziehen.
Kurz nochmal die Vorgeschichte: Am 17.10.2012 wurde durch eine Pressemitteilung der Stadt Stralsund bekannt, dass das Stadtarchiv wegen Schimmelbefall geschlossen werden musste.

Es hieß in der damaligen Pressemitteilung: (Jetzt auf neuer Seite) „nachdem es nach Veräußerung eines Teilbestandes der ehemaligen Gymnasialbibliothek an einen Antiquar Hinweise gegeben hatte, dass der Bücherbestand in schlechtem Zustand sei.“

Auf Nachfrage von Dr. Klaus Graf antwortete der Pressesprecher der Stadt Stralsund am 30.10.2012: „Bestätigen können wir Ihnen deshalb, dass ein Antiquar die bisher im Stadtarchiv Stralsund befindliche Gymnasialbibliothek angekauft hat. Darüber hinaus können wir jedoch keine weiteren Informationen geben, da es sich hierbei um schutzwürdige Interessen handelt. Deshalb wurde dem Verkauf durch ein Gremium der Bürgerschaft im nichtöffentlichen Teil der entsprechenden Sitzung zugestimmt. „

Das Thema wurde daraufhin in der örtlichen Presse aufgegriffen (Ostseezeitung am 3.11.2012), es wurde bekannt dass 6250 Bücher aus der Gymnasialbibliothek im Juni für 95 000 Euro verkauft wurden. Als erstes formulierte die Gesellschaft für pommersche Kirchengeschichte am 6.11.2012 einen offenen Brief an die Stadt; zahlreiche weitere Institutionen und Vereine folgten früher oder später.
Am 7.11.2011 wurde die Petition zur Rettung der Archivbibliothek  gestartet und parallel dazu eine Facebookseite eingerichtet.

Die Stadt Stralsund hatte am 6.11.2012 zwei unabhängige Fachgutachter mit der Bewertung des Vorgangs beauftragt, die dann zu der Auffassung kamen, dass es sich bei der Büchersammlung aus der alten Gymnasialbibliothek, wenn man sie als ein Ganzes betrachtet, um bedeutendes Bibliotheksgut handelt. Die Gutachten wurden am 20.November der Öffentlichkeit vorgestellt. (Siehe Veröffentlichung auf stralsund.de) (Jetzt auf neuer Seite)
Inzwischen hatte die „causa Stralsund“ weite Kreise gezogen, Berichte wurden im NDR und überregional z.B. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung  und der Berliner Tageszeitung veröffentlicht, teilweise wurde die Stadt mit beißendem Hohn bedacht.

Ganz schnell ruderte die Stadt zurück. Bekam sie doch auch vom Denkmalamt des Landes Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise bestätigt, dass der Verkauf gegen das Archivrecht verstoßen hätte. Mit dem ankaufenden Antiquar wurde eine Rückabwicklung vereinbart, 5.278 Bücher von ursprünglich verkauften 6250 Büchern aus der historischen Gymnasialbibliothek gelangten am 3.12.2012 wieder nach Stralsund zurück.

Als Verursacherin der ganzen Misere wurde die Leiterin des Stadtarchivs benannt, erst mit Redeverbot belegt und deshalb auch als „Bauernopfer“ vermutet, konnten sie sich am 6.12.2012 erstmals äußern, nachdem auch weitere Verkäufe bekannt geworden waren. Sie behauptete (OZ vom 7.12.2012): “So habe ihr Vorgänger, Dr. Hans-Joachim Hacker, schließlich als eine Art Verzweiflungsakt die Methode entwickelt, Dubletten zu verkaufen, um etwas Geld für die Restaurierung der wertvollen Bestände zu erhalten. Sie habe diese Praxis dann seit 2009 fortgeführt. Die Gymnasialbibliothek, an der sich jetzt der ganze Skandal entzündete, sei immer mehr vergammelt. Deshalb habe man sich entschlossen, durch den Verkauf noch etwas Geld einzunehmen, bevor man einiges ganz wegschmeißen müsste.”
Sie wurde fristlos entlassen. Offen bleibt aber weiterhin die Frage, ob sie wirklich auf eigene Faust gehandelt hat, sie behauptet anderes.

Nachdem auch nach dieser Rückabwicklung weitere Verkäufe aus Stralsund, z.T. sogar nachweislich aus der Gymnasialbibliothek, im Internet zu verzeichnen waren, ermittelt inzwischen der Staatsanwalt . Aktuell hat es den Anschein, dass keine weiteren Bücher aus Stralsund mehr neu in den Verkauf gelangen.

Zumindest nach außen hin hat die Stadt Stralsund einiges unternommen, um ihren Ruf wieder herzustellen. Aber etliche Fragen, auch aus der Auskunftsklage von Herrn Dr. Graf, blieben unbeantwortet. Es bleibt bei der vagen Aussage, dass die Bücher als Lot verkauft wurden, man deshalb nichts über verkaufte oder zurückbehaltene Bücher sagen könne oder darüber, ob Bücher aus der Bibliothek des Zacharias Orth mitverkauft wurden.
Wenn denn schon das Stadtarchiv keine Liste der verkauften Bücher erstellt hat, muss doch der ankaufende Antiquar eine Buchhaltung betrieben haben? Zumindest er hat doch eine Liste der zum Verkauf eingestellten und verkauften Bücher?Wenn bekannt wäre, welche Bücher schon verhökert wurden, würde das auch den öffentlichen Druck auf die nichts ahnenden Käufer erhöhen, ihre Bücher zurückzugeben.

Auch zu dem Vorwurf der Ostseezeitung vom 13.12: „Stadtarchivarin Regina Nehmzow habe im Januar 2012 „eigenmächtig“ eine Honorarkraft eingestellt — ohne Arbeitsverhältnis mit der Hansestadt und ohne Kenntnis der Personalverwaltung. Recherchen in der Stadtkasse hätten keine Zahlungsempfängerin ergeben. Auch im Haushaltsplan des Stadtarchivs tauche ein entsprechender Titel nicht auf. In der Anhörung einer Mitarbeiterin des Archivs „ergaben sich schlüssige Hinweise darauf, dass die Bezahlung der Frau (…) offenbar durch Herrn Hassold erfolgte, den späteren Käufer“. Eine Aussage, die Regina Nehmzow weiter unter Druck setzen dürfte. Die Archivarin erklärte gestern in einer weiteren Sondersitzung der Bürgerschaft, Hassold habe angeboten, die Bezahlung der Honorarkraft zu übernehmen. Sie habe dies angesichts leerer Kassen angenommen.“ sind keine Äußerungen mehr erfolgt.

Was ist mit den Büchern? Sie werden nach Angaben der Stadt in Thermocontainern gelagert, das Johanniskloster wird von einer Fachfirma vom Schimmel gereinigt und die von Schimmel befallenen Bücher aus dem Archiv sollen nach einer Prioritätenliste an sogenannten reinen Werkbänken von Archivmitarbeitern gereinigt werden.
Hat hier eine Fachberatung stattgefunden, sind diese Mitarbeiter überhaupt genügend geschult für diese Maßnahme? Es wäre schön, wenn die Stadt hierzu auch mehr Informationen veröffentlichen würde.

Hat die Stadt das Hilfsangebot der Universitätsbibliothek Greifswald angenommen?

Die derzeit letzte Nachricht aus Stralsund stammt aus der Ostseezeitung vom 29.12:
Die leerstehende ehemalige Nachrichtenzentrale der einstigen Offiziershochschule an der Schwedenschanze, vom Bund an die Liegenschaftsentwicklungsgesellschaft (LEG), eine 100%ige Tochter der Hansestadt Stralsund, verkauft, bietet ausreichend Platz, Bücher zu lagern.“
Anfang des Jahres soll die technische Umsetzung geprüft werden, aber eines steht wohl klar, „Es wird hier künftig nur eine sichere Lagerung der Archivschätze geben, keinen Publikumsverkehr“ Wie lange wird das Stadtarchiv geschlossen bleiben? Hat die Ostseezeitung vielleicht sogar recht, wenn sie in einer Glosse von einer erneuten Öffnung im Jahre 2025 spricht?
Kosten von etwa 2 Millionen Euro werden genannt.

Ich denke, jetzt ist auch die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern in der Verantwortung. Es war mir schon im Juli unverständlich, dass eine Summe von 2000 Euro jährlich an Landesmitteln gestrichen wurde, weil „die Bestände nicht von landesweiter Bedeutung seien.“ (OZ vom 7.7.12). Das wird sich ja jetzt wohl keiner mehr trauen, zu behaupten.

Auf folgende Forderungen unserer Petition möchte ich hier noch mal hinweisen:
Wir rufen die politischen Entscheidungsträger in Mecklenburg-Vorpommern, Landtag und Verwaltung, dazu auf, dringend rechtliche Regelungen in Kraft zu setzen, die solche Veräußerungen beweglicher Kulturgüter in Archiven, Bibliotheken und Museen wirksam verhindern können.

Alle schützenswerten Sammlungen im Land sind in das Verzeichnis national wertvollen Kulturguts (bzw. national wertvoller Archive), das derzeit noch leer ist, aufzunehmen und in die Denkmalliste als bewegliche Denkmäler einzutragen.  (siehe Im Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes für Mecklenburg-Vorpommern wurden bisher keine Eintragungen vorgenommen und als einziges Archiv Archivalien der Gutsherrschaft Wrechen)

Die Stadt allein ist mit dem finanziellen Umfang der Maßnahmen sicher überfordert. Ihr ist anzuraten, jetzt, wo das allgemeine Interesse noch da ist, auch einen Spendenaufruf zu starten. Der würde, wenn denn sicher ist, um welche Bestände es geht und was exakt gemacht werden soll, sicher von einer breiten Gruppe von Leuten unterstützt werden, die auch die Petition unterzeichnet haben.
Bestes Beispiel: nur über genealogische Mailinglisten lief im November die Spendenaktion für die wegen Schimmelbefalls stark gefährdete “Sammlung Sauerzapf” des Stadtarchivs Augsburg unter dem Stichwort “100 geben 100” an, um den geschätzten benötigten Geldbetrag von etwa 10.000 € (oder etwas mehr) zusammenzubekommen. Nach einem Monat waren bereits ca 8000 € zusammengekommen. Ohne Petition. Ohne Internetseite, Ohne Facebookauftritt.

Das müsste in Stralsund doch auch zu schaffen sein? Ich wäre sofort dabei. Und das wäre dann für mich   „MEIN FASZINIERENDES KULTURERLEBNIS“
M.Ott

Nachtrag im November 2013: Für mich war alles,  was ich rund um den Verkauf der “Stralsunder Gymnasialbibliothek” gelernt und erlebt habe, ein faszinierendes Kulturerlebnis. Was ist überhaupt eine Inkunabel , was zeichnet den Wert einer historischen Gymnasialbibliothek aus und was bewirkt die Zusammenarbeit vieler an einem gemeinsamen Projekt? Die Causa Stralsund war der Grund, dass ich viele begeisternde Menschen kennenlernen durfte und schlussendlich auch der Grund, uns als genealogischen Verein auch in die sozialen Medien zu bringen. Und die Causa Stralsund hat ja immer noch kein Ende: die Einstellung des designierten Nachfolgers zum 1. November liegt immer noch auf Eis.

 

Ein Gedanke zu “Stralsund – Resümee und Wünsche für das Neue Jahr”

  • Als ich diese Publikation gelesen habe, war ich von der Ignoranz und Dummheit einiger Verantwortungsträger der Stadt Stralsund bitter enttäuscht. Ich frage mich, was sind ein paar Silberlinge gegen das geistiges Kulturgut aus Jahrhunderten. Sich dann auch noch hinter solch eine Aussrede, wie: ” Schutz schutzwürdiger Interessen u.a. Handlungen” zu verstecken, hat doch einen sehr faden Geschmack. Dagobert v. Ahnen

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