Ein Gastbeitrag von tm*

 

Wir alle kennen die Geschichten von früher, die unsere Groß- oder Urgroßeltern im Kreise von Familienfeiern so gern erzählten. Sie wurden öfter als einmal erzählt, manche viel öfter, so dass die Älteren schon auf Durchgang schalteten, amüsiert in sich hinein lächelten, oder den Text innerlich mitsprachen. Als Kind saugt man sie wie ein Märchen auf, in der eigenen Pubertät gibt es wichtigeres, als olle Kamellen. Mit zunehmendem Lebensalter wandelt sich auch das Empfinden von ‘Zeit’ als physikalischer Größe. Man hat gesehen, wie Bäume gewachsen und Menschen um einen herum aufgewachsen, bzw. gealtert sind. Grabsteine auf Friedhöfen verschwinden, weil die Alten sie nicht mehr pflegen können, die Kinder weg zogen, oder die Pacht oder Pflegeverträge nicht verlängern wollen. Und die Jungen interessieren sich kaum für Menschen, die sie selbst nie kennengelernt haben.

Friedhof in Kamminke, Insel Usedom

Ich mochte und mag diese Geschichten und irgendwann nach 2000 begann ich, Tonaufnahmen von den Erzählungen zu machen. Mein Augenmerk lag auf den Geschichten, weniger auf den vollständigen Namen und Lebensdaten der Protagonisten.

Dann kommt der Tag, an dem Erzähler nicht mehr erzählt. In uns klingt das Echo der Geschichten nach und es verhallt langsam. Ging es in der Geschichte um Onkel Willi? War er der Bruder von Uroma oder Uropa? Geschah das vor dem Umzug nach A.? Uropa war zweimal verheiratet? Wieso hieß er eigentlich anders mit Nachnamen, wenn er doch der Bruder von X war? Hieß er wirklich nur Willi, oder Wilhelm? Über welche Ecken sind wir eigentlich mit Familie Z. verwandt? Oh Gott, es gibt so viele Willis! Hatte er noch andere Vornamen? Glücklich, wer beizeiten anfing, diese Geschichten aufzuschreiben, Lebensdaten sammelte, oder vielleicht sogar Tonaufnahmen machte. Der Tag, an dem Erzähler nicht mehr erzählt, wird kommen. Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Familiengeschichten sind wertvoll. Sie beantworten eventuell auch die Frage, warum wir so sind, wie wir sind. Traumata von Krieg und Vertreibung wirken nach, werden unbewusst an die Kinder und vielleicht auch die Kindeskinder weitergegeben. Das wurde mir klar, als ich kürzlich die Arte-Dokumentation “Geboren in Auschwitz” sah. So, wie die jüdische Mutter ihrer Tochter im frühen Kindesalter schon Selbständigkeit und Härte (neudeutsch: Resilienz) anerzog, mögen auch Flüchtlinge und Russlandheimkehrer ihre Kinder im Nachkriegsdeutschland und anderswo auf Entbehrungen vorbereitet haben, die Gott-sei-Dank nicht eintrafen.

Ein anderes schönes Beispiel ist der Film “Songs from the Southern Seas”, der die Frage nach der eigenen Herkunft aufgreift und die Bedeutung der Geschichte unserer Vorfahren für das eigene Leben herausstellt. (Warum hat der Sohn ganz unerwartet schwarze statt blonder Locken und diesen unbändigen Freiheitsdrang?)

Was auch immer der Anlass sein mag, irgendwann greift man zu Stift und Papier und fängt an, einen Stammbaum zu entwerfen. Je nach Anzahl der Onkel und Tanten zieht die Skizze dann ganz schnell auf eine alte Tapetenrolle o.ä. um. So ging es mir circa 2002. Damals fing ich schon an, die Daten in ein Computerprogramm (“Grandma told me”, MacOS 8) einzutragen. Den Computer habe ich noch, aber er startet leider nicht mehr und das Dateiformat der Festplatte ist so hoffnungslos veraltet, wie das Betriebssystem des alten Apple-Rechners aus den 1990ern. Die Suche nach den Stammbaumskizzen beginnt und irgendwann finde ich sie erleichtert. Eine Schatzkarte breitet sich vor mir aus! Uronkel x-ten Grades mit drei Vornamen, die jene an die Kinder weitergaben. Aus Carl
Friedrich Hermann wurden August Karl Friedrich, Emil Friedrich Karl und Augustine Friederike Emilie. Manchmal erkennt man ein Schema. Ich selbst gehöre der Generation an, der die Namen der Vorfahren nicht mehr mitgegeben wurden und sie auch nicht weitergegeben habe. Es hätte in den 1960ern auch seltsam angemutet, seine Kinder Hannelore, Emilie, August oder Walter zu nennen. In meinem Umfeld zumindest, war es nicht üblich.

Sind die Informationen von den Eltern, Großeltern, usw. erschöpft (vielleicht auch schon früher), greift man in die Tasten und befragt das Orakel INTERNET. Und es antwortet! Neben kommerziellen Angeboten, die den kostenpflichtigen Zugriff auf historische Standesamtsunterlagen, Kirchenbücher, usw. erlauben, stoße ich auch auf solche Edelsteine wie den Pommerschen Greif, den Verein für Computer-Genealogie oder diverse ganz private Familienforscher. Ein Gefühl von Achtung und Dankbarkeit erfüllt mich angesichts der immensen Arbeit einer Menge Leute, die systematisch Puzzleteile zusammengetragen und Datenbanken gespeist haben. Und ja, auch das polnische Staatsarchiv hat mit der Digitalisierung von Unterlagen aus dem ehemaligen Pommern und Ostpreußen hervorragende Arbeit geleistet.

Mir hilft, dass wir als Kinder Sütterlin spielerisch als Geheimsprache ausprobierten. So fällt mir die Entzifferung eingescannter handschriftlicher Standesamtseinträge leichter.

Nun suche ich also in Datenbanken, Listen und Übersichten anhand von Namen, Orten und Jahreszahlen nach Personen, finde Namensgleichheiten, beurteile diese als mögliche Vorfahren und jenseits der reinen Dokumentation der eigenen Familie tauche ich tief in die jüngere Geschichte ein. Ich stoße auf schriftliche Zeugnisse hoher Kindersterblichkeit noch am Ende des 19. Jahrhunderts. Acht dokumentierte Geburten und sechs Kinder davon haben die ersten drei Jahre nicht überlebt? Geburten in der Regel zu Hause, im Standesamts-Sütterlin “in der Wohnung des Ehemannes”? Familiengeschichten, sie sich über hundert Jahre hinweg im Umfeld einiger weniger Dörfer zugetragen haben, in einer Zeit, als ‘Mobilität’ entweder ein Fremdwort, oder gänzlich unbekannt war und der Klebstoff, mit dem man an der eigenen Scholle hing, noch aus anderem Holz war.

Aber auch das Fehlen von Unterlagen sagt viel aus, wie z.B. die wohl seit dem Krieg verschollen Aufzeichnungen aus dem Standesamt Dramburg, die eine Lücke in meine Chronik reißen. Die Oma meiner Frau rettete im Winter ’45 auf der Flucht nur das nackte Leben ihrer drei kleinen Kinder und ein Familienfoto aus besseren Tagen, von Geburtsurkunden oder Stammbuch ganz zu schweigen. Alle Ausweispapiere wurden neu ausgestellt. Geschichten über harte Winter an der Weichsel, aus einer Zeit, da der Frost Pappeln spaltete und der Bombardierung Dresdens, haben ebenfalls überlebt.

Es gibt auch überraschende und unerwartete Treffer. Ein Großonkel kam auf die bescheuerte Idee, während des Krieges auf einem Wehrmachtsgelände etwas zu stehlen. Die Quittung: Ein Eintrag über seine Verlegung von Mauthausen nach Dachau im Jahre 1940, Entlassung 1942, Krieg überlebt, aber qualvoll gestorben 1947, mit nicht einmal 40 Jahren.

Manchmal endet eine erzählte Geschichte unverhofft mit Schweigen. Dann hat man vielleicht eine alte Wunde angerührt, deren Ursache wohl verborgen bleiben wird, siehe z. B. den Geo-Wissen Artikel: Die dunklen Seiten der Vergangenheit. Warum sollten Familiengeschichten auch immer nur sonnig sein?

Die Recherche ist eine Reise, auf die ich gegangen bin. Dank der vielen online verfügbaren Informationen erstmal eine mit der modernen Entsprechung des ‘Fingers auf der Landkarte’. Nach Corona werde ich Menschen und Orte besuchen und Geschichten sammeln. Bis dahin stöbere ich in Datenbanken herum, höre meine Tonaufnahmen an, schreibe in Kurzfassung die Geschichten auf, ziehe jedes Quäntchen an Information heraus und lege es als Puzzleteil in unser großes Familienbild.

*Der Name des Autors ist der Blog-Redaktion bekannt.

 

4 Gedanken zu “Zeitreise”

  • Ich bin heute durch einen Artikel im “BLITZ” auf etwas aufmerksam ge-
    worden, dass mich seit Jahrzehnten “umschleicht” !!! Ich komme aus einer
    Familie mit Adoptionen i.d .Vergangenheit (bei meinem Großvater) und
    unbekanntem Vater meiner Mutter. Ahnenforschung war immer schon ein
    “Drangthema” in mir, zumal meine Vorfahrenfamilien im Verhalten aus-
    gesprochen zerrissen agierten. Jetzt mit fast 70Jahren – und nach dem
    ich Eure Seite gefunden habe (speziell f.Vorpommern) könnte ich mir
    vorstellen, die Angelegenheit aktiv anzugehen. Ich hoffe, kein “Blinder in
    der Sonne” zu bleiben.
    Herzliche Grüsse Doris

  • Die Zusammenfassung der Beweggründe für so eine Ahnenforschung gefällt mir. Allerdings wurde ich beim Lesen etwas neidisch. Es wird nämlich von einer Familie berichtet die auch zwischen den Generationen kommuniziert. Leider gibt es Familien die stur nach vorne blicken und schweigen. Das lässt Raum für Spekulationen und macht in der Ahnenforschung ausführliche Nebenrecherchen erforderlich. Wenn deren Ergebnis nicht wie erwartet spektakulär ist, dann bleibt die Frage nach dem Warum des Schweigens. Einstweilen kann man sich mit dem Begriff des Symbiosetraumas behelfen. So etwas soll in Flüchtlingsfamilien nicht selten sein.

  • Eine sehr schöne Erzählung über deine Zeitreise in die Familiengeschichte. Da kann ich mich und bestimmt viele andere Familienforscher wiederfinden. Vielen Dank dafür, aber warum anonym?

  • sehr richtig. Tonaufnahmen sollte man machen, solange das noch möglich ist. Die Smartphones geben dazu ja ganz einfache Möglichkeiten und wer mit Laptop und einer entsprechenden einfachen und kostenlosen Software arbeitet, kann das auch ganz ohne “Rauschen” hinbekommen. Eine solche Tondatei “von Deiner Ururgroßmutter” ist auch ein hübsches Geschenk zum Abi oder zum Studienabschluss.

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